Der Entwurf von geschlossenen Symbolsystemen wie einem Tarotkartendeck hat Vor- und Nachteile. Mit seiner begrenzten, mathematischen Struktur – 22 Trumpfkarten + 56 Farbkarten, letztere bestehend aus 4 Farben mit jeweils 10 Zahl- und 4 Personenstatuskarten – vermittelt das System ein Gefühl der Ordnung und Übersichtlichkeit. Ordnung, altgriechisch Kosmos, beruhigt die Nerven und bietet der eigenen Vorstellungskraft symbolische Haltegriffe, die nützlich sind, wenn ich über das Ungewisse eine Geschichte erzählen will. Tarotkarten sind ja Hilfsmittel zur Weissage. Herkömmlicherweise werden sie zur Sichtbarmachung unbewusster Konflikte bezüglich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verwendet. In einem Einzel- oder Gruppengespräch dienen sie als Grundlage für eine mehr oder weniger dialogische narrative Improvisation über das Ungewisse.
Die symbolische Geschlossenheit des Tarotkartensystems ist allerdings nicht nur dessen Stärke, sondern gleichzeitig auch dessen Schwäche. Denn egal wie reich an Querverweisen und Interpretationsmöglichkeiten die Karten sind, es ändert nichts an der Tatsache, dass die von Natur aus ungeordnete Gegenwart nichts mit dem Ordnungssystem gemeinsam hat. Menschen gehen mit diesem Problem unterschiedlich um. Eine fiktive Ordnungsbehauptung ist das geringste Problem für diejenigen, die in der Lage sind, Wissenssysteme grundsätzlich hinzunehmen und sich flexibel und assoziativ durch ihre Zwischenräume zu bewegen. Ich finde solche Charaktere wirklich faszinierend. Sie müssen weder gehorchen, noch vorschreiben, sie nutzen vorhandene Konstellationen einfach so, wie es ihnen am besten passt. Teilweise unterlaufen sie sogar den Machtanspruch des Ordnungssystems, indem sie sich über jeglichen Machtanspruch, inklusive des eigenen, lustig machen. Sie haben keine eigene Stimme, aber bleiben dafür von Unterdrückung verschont.
Trumpfkarte Nummer 0–Odradek, früher „Der Narr“, repräsentiert dieses Mindset. In Tarotdecks hat die Karte Nummer 0 eine besondere narrative Funktion. Sie markiert den Beginn einer subjektiven Reise und zeigt eine Figur, die frei ist, loszugehen, sich auf den Weg zu machen. Die Positionierung am Platz Nummer 0 der Trumpfkartenfolge gibt Odradek damit automatisch ein Ziel, ein Objekt, ein Gegenüber – nämlich die letzte Trumpfkarte, Nummer 21. Früher hieß diese Karte „Die Welt“, meistens dargestellt durch eine Frau im geschmückten Oval – sie markierte das Ziel des reisenden Narren. Im neuen Deck trägt die letzte Trumpfkarte stattdessen den Titel Die Stimme und repräsentiert damit ein weniger äußerliches, stärker selbstbezogenes Objekt. Odradek, bekannt für sein stimmloses Lachen, ist eigentlich eine haustierähnliche Figur aus der Kurzgeschichte „Der Hausvater“ von Franz Kafka. Seine Fähigkeit sich flexibel und assoziativ durch die Zwischenräume eines Ordnungssystems bewegen zu können ist in diesem Deck die Voraussetzung für die Entwicklung einer eigenen Stimme und damit für die Möglichkeit des Erzählens als solches. Die 0 repräsentiert kein Ideal. Sie repräsentiert die Möglichkeit freien, lustvollen Denkens. Sie repräsentiert Sinnlosigkeit und Stimmlosigkeit, sie repräsentiert das Bewusstsein als eine eigene, innere Erfahrung von Absurdität. Meine Diskussion dieses Tarotdecks nimmt seinen Anfang also in einer undefinierbaren, unkontrollierbaren Figur, der das System gleichgültig ist.
Vier Karten weiter zeigt die Trumpfkartengalerie eine Figur, für die die Behauptung eines fiktiven Ordnungssystems schon eher ein Problem darstellt: Nummer 4–Der Spieler, in alten Decks „Der Herrscher“. Ich nehme die Karte heraus und lege sie rechts neben Odradek. Diese zweite Karte steht für einen autoritären Charakter, der das Problem systematischer Willkür dadurch versucht zu lösen, dass er dem System einen Herkunftsmythos anheftet, der es in einer uralten Tradition verankert. Ich denke dabei zum Beispiel an den Gestalter des „Thoth-Decks“, einen englischen Magier und Sadisten, der während der Weimarer Republik u.a. in Berlin lebte und einen eigenen esoterischen Kult zu begründen versuchte. Aber auch faschistische, nationalistische, kommunistische und religiöse Staaten sind voll von Typen dieser Art. Spontanen Zweifel an der Legitimität des von ihnen selbst behaupteten Ordnungssystems beantworten sie mit einer Flucht nach vorn – geradewegs hinein in einen mystischen oder traditionalistischen Wahrheitsanspruch.
Es ist eine Sache, ein selbst erfundenes System vorzustellen, zu erklären und zu verbreiten. Es ist eine andere Sache, zu behaupten, dass dieses System unabhängig von dem, was jemand damit tut, richtig und wahrhaftig, womöglich sogar gottgegeben sei. Die Karte Direktor der Bewegungen (früher „König der Stäbe“) verbildlicht den ersteren, direkten Umgang mit der eigenen Autorität. Ich lege sie über Nummer 4–Der Spieler. Hier dargestellt durch den Choreographen Rudolf von Laban, der in den 1920er Jahren ein eigenes Notationssystem für Tanz entwickelte. Die Karte zeigt das System und dessen Macher in einer unmissverständlich egozentrischen, werkorientierten Beziehung: Hier bin ich und das ist mein System. Eine eher indirekte Behauptung der eigenen Autorität zeigt sich in der Karte Direktorin der Apparate (früher „König der Schwerter“). Ich lege sie über Nummer 4–Der Spieler. Hier repräsentiert ein zur Göttin erhobener weiblicher Maschinenmensch zum Schein die Position der Macht. Ausgeübt wird diese Macht aber tatsächlich vom Ingenieur, der sie erschaffen hat – eine Szene aus dem Film Metropolis. Sollte die Karte wirklich Direktorin der Apparate heißen, warum nicht Direktor? Sie zeigt einen Mann, der vorgibt, nur ein ausführender Arm der Macht zu sein, der versucht, den eigenen Machtanspruch in etwas anderem zu verankern als sich selbst und zwar in einer Figur, die weder männlich noch menschlich ist. Sowohl der eine als auch der andere autoritäre Typ tendieren dazu, Macht anzuhäufen, was bei mir persönlich immer Ärger hervorruft. Autoritäten der zweiten Art verlangen von mir zudem noch einige analytische Arbeit und Aufmerksamkeit. Um die Erkenntnis abzuwehren, dass sie selbst diejenigen sind, die ein Ordnungssystem vorschreiben wollen, tun sie so, als hätten sie eine uralte Kosmologie geerbt oder durchschaut. In ihnen oszilliert die Sehnsucht, sowohl zu gehorchen als auch selbst Befehle zu erteilen. Sie wollen gleichzeitig einer von allen sein und über allen stehen. Trumpfkarte Nummer 4–Der Spieler beschreibt diese Widersprüchlichkeit, die patriarchalischen Machtapparaten grundsätzlich innewohnt. In einem kapitalistischen Wertesystem – und das ist der Kontext dieses Kartendecks – sind patriarchalische Herrscher oftmals nicht sofort als solche zu erkennen. Ihr Machtanspruch basiert weniger auf ererbten Privilegien und auch nicht ausschließlich auf dem männlichen Geschlecht, sondern vor allem auf der eigenen Besessenheit im Spiel unbedingt gewinnen zu müssen. In Kombination mit einer gewissen Skrupellosigkeit produziert die Gewinn- oder auch Profitorientierung, die im Kapitalismus ja überall gefördert wird, dann eine Herrschaft, in der Wettkampf und Leben nicht mehr voneinander zu trennen sind. Der Spieler wird zum Herrscher, wo das materielle Leben der Menschen nach denselben Regeln zu funktionieren scheint wie das Spiel.
Die Karten dieses Tarotdecks lassen sich übrigens nicht nur zum Weissagen, sondern auch zum Spielen benutzen. Früher hieß das Deck auch „Industrie & Glück“, benannt nach einem alten Wiener Kartendeck aus dem 19. Jahrhundert, das vor allem für das kompetitive Spiel Tarock benutzt wurde und dem Tarotdeck sehr ähnlich ist. Mittlerweile trägt es den Titel „Die Gestalt und die Sachlichkeit“.
In der fiktiven Kartenlegung, die diesen Text strukturiert, habe ich neben Odradek und Der Spieler hier noch zwei weitere Karten aufgereiht. Die erste zeigt eine Figur, der geschlossene Systeme wie Tarotkartendecks besonders viel Stress bereiten. Hier liegt die Karte Revolutionär*in der Apparate – früher „Ritter der Schwerter“. Sie repräsentiert die mutige, wache, möglicherweise sogar aggressive Herausforderung des Systems. Mit dieser Position kann ich mich partiell identifizieren. Ich weiß, dass es kein Symbolsystem ohne Willkür geben kann und auch keins, das wirklich aktuell ist, aber ich kann trotzdem nicht aufhören an diesen Systemen zu rütteln, sie zu hinterfragen und zu versuchen, sie intellektuell zu erneuern. Also habe ich das Tarotkartensystem von Grund auf modernisiert. Ich weiß, dass diese Modernisierung keine endgültige Lösung für das Problem darstellt, dass es sich bei einem Tarotkartendeck immer um ein geschlossenes Ordnungssystem handelt, das mit der von der Natur aus ungeordneten Gegenwart nichts gemeinsam hat. Ich weiß, dass jede Erneuerung immer nur eine temporäre Erleichterung, Öffnung, Vergegenwärtigung erreichen kann und dass alle Revolutionär*innen am Ende selbst Direktor*innen sein wollen. Die Revolutionär*in der Apparate repräsentiert für mich diese unmissverständliche Haltung. Die Karte zeigt eine Figur ohne Gesicht in einer frontalen, offen breitbeinigen Position, die Knie angewinkelt, ihre kugeligen Hände hoch erhoben neben dem Kopf, zum Schlag bereit, aber nur illustrativ, nicht drohend.
Wie alle Personalkarten verhalten sich Revolutionär*innen auf eine bestimmte Weise zu ihrer Farbe. Arbeiter*innen sind Mitglied einer Farbgruppe, sie bearbeiten sie und leben durch sie, aber sie drücken sie nicht anderen auf. Die Räte stehen für die Farbgruppe selbst und den nach innen gewandten, selbstreflektierten Gruppenprozess. Die Direktor*innen stehen einer Farbgruppe vor, um sie zu leiten oder zu beherrschen. In der Figur der Revolutionär*in versucht die Farbe schließlich sich selbst abzuschaffen, entweder im Sinne von Selbstzerstörung oder im Sinne einer nach außen gerichteten Mission. Innerhalb des zirkulären Kartensystems markieren die Revolutionär*innen dabei nicht nur das Ende der einen Farbe, sondern gleichzeitig den Beginn einer neuen Farbe. Die Revolutionär*in der Apparate führt dann von den Apparaten – also dem kognitiven, beobachtenden Bewusstsein – in die Bewegungen, das performative, kreative Bewusstsein. Ihr anvisiertes Ziel innerhalb des Systems ist damit tatsächlich der Direktor der Bewegungen, der Mansplainer unter den Autoritäten, ein Typ, der bei mir grundsätzlich Ärger hervorruft. Für mich selbst sehe ich darin allerdings keinen Determinismus, sondern nur eine hilfreiche Erzählung, die mir als Warnung dient. Außerdem ist auch dieser Direktor nur ein temporärer Zustand, eine von 78 Karten im Kartenstapel. Im geordneten Kreislaufsystem des Decks kommt auch nach ihm wieder eine Revolutionärin, die Revolutionärin der Bewegungen, um uns in die nächste Farbe, die Farbe der Papiere zu führen.
Rechts neben der Karte Revolutionär*in der Apparate liegt jetzt allerdings eine andere Karte, die vor allem visuell in einer Beziehung zur letzten Karte steht: Trumpfkarte Nummer 21–Die Stimme. Die Arme, die bei der Revolutionärin noch neben dem Kopf in Kugelhänden zusammengezogen waren, sind hier ausgebreitet und schräg nach oben ausgestreckt. Die Handflächen sind offen, der Brustkorb ist offen, die Beine sind geschlossen. Aus der Mitte des Körpers sowie aus dem Kopf scheinen Reifen wie in Wellen herauszustrahlen – wie die vorherige Karte, auch dies eine Szene aus Oskar Schlemmers Triadischem Ballett. Erst in dieser Legung ist mir aufgefallen, dass die Karte Revolutionär*in der Apparate visuell direkt mit der Karte Die Stimme verbunden ist. Hier zeigt sich nicht nur, wie begrenzt und aggressiv die revolutionäre Herausforderung des Systems daherkommt, sondern auch, dass diese Position ein vorbereitender Schritt ist auf dem Weg in Richtung Stimme.
Das Deck, das bei meiner Modernisierung herausgekommen ist, trägt erst seit ein paar Wochen seinen neuen Titel: „Die Gestalt und die Sachlichkeit“. Die Gestalt ist gleichzeitig der Name der Trumpfkarte Nummer 1 und Die Sachlichkeit ist der Name der Trumpfkarte Nummer 20.
Ich lege beide Karten zum Abschluss über und unter die Trumpfkarte Nummer 21–Die Stimme. In der linearen Trumpfkartenfolge markiert Die Gestalt den ersten Schritt, Die Sachlichkeit den letzten Schritt in ihre Richtung. Wenn Odradek und Die Stimme den Rahmen der Erzählung darstellen, das Erzählen als solche möglich machen, dann sind Karte Nummer 1 und Nummer 2 die Protagonistinnen und der Kontext einer Geschichte, die sehr konkret ist, meine Geschichte, deine Geschichte. In einer Kartenlegung treffen sich beide im Dialog.